VENEDIG RETTEN – ABER WIE?

Die fragile Stadt in Norditalien wird zu Tode geliebt. Es muss sich vieles ändern, will man sie erhalten. Der Bürgermeister verlangt jetzt Eintritt. Aber nicht mal er weiss, wie das funktionieren soll.

Zum «Smart Control Room» geht es scharf rechts, gleich wenn man mit dem Auto über den Damm nach Venedig kommt. In Tronchetto, wo die Fähren zum Lido abfahren und Parkhäuser die Autos derjenigen aufnehmen, die zu Fuss in die Altstadt wollen. Hier unterhält die Stadt Venedig ein Kontrollzentrum, in dem die Mitarbeiter so ziemlich alles im Blick haben, was in der Lagune passiert. Hier laufen die Bilder der städtischen Überwachungskameras ein.

Auf grossen Bildschirmen sieht man die Parkplatzauslastung, die Anzahl und die Art der Boote auf den Kanälen. Und man sieht, wie viele Menschen sich in welchem Teil der Stadt aufhalten. Dank der Telefondaten, mit denen das System verbunden ist, können die Behörden analysieren, aus welchen Ländern die Touristen kommen, wo, seit wann und wie lange sie sich in der Stadt aufhalten.

«Wir erheben aber keine personenbezogenen Informationen», betont Marco Bettini, der Direktor der zuständigen städtischen Gesellschaft. Digitale Kontrollzentren wie dieses gibt es mancherorts. In Venedig könnte das Ganze aber bald eine neue Dimension bekommen, weil der Stadt ab dem nächsten Donnerstag weitere Daten zufliessen. Venedig führt an diesem Tag eine Eintrittsgebühr für Tagesbesucher ein – das macht weltweit Schlagzeilen.

Die Gebühr wird online erhoben und gilt für die gesamte Altstadt. Und auch die dabei generierten Daten sollen, anonymisiert und verallgemeinert, ausgewertet werden. «Wir brauchen das, um vorbereitet zu sein», sagt Bettini. «Es macht für uns einen Unterschied, ob 200’000 oder 300’000 Menschen gleichzeitig da sind.»

In der ganzen Welt berichten Medien gerade über den «contributo di accesso». Kein Wunder: Venedig gehört zu den berühmtesten und beliebtesten Touristenzielen überhaupt – ohne dafür gebaut zu sein. 14 Millionen Menschen kommen jedes Jahr hierher, mit dem Auto, dem Zug, per Flugzeug. Und sehr viele eben auch von den gewaltigsten Kreuzfahrtschiffen, die die Welt kennt. Gäste, die man besonders wenig mag, weil sie kaum Geld dalassen: einmal kurz rein in die Stadt, dann wieder zurück zum Dinner an Bord.

Zwar müssen die Schiffe seit zwei Jahren die Lagune meiden und weiter entfernt anlegen, aber die Lage hat das nicht nennenswert entspannt. Aber deswegen gleich eine ganze Stadt unter Vorbehalt stellen? Klingt unerhört.

Auch wenn es nur um bescheidene 5 Euro Tagesgebühr geht, die in diesem Jahr erstmals fällig werden, und das auch nur an 29 Tagen bis zum Sommer. Es beginnt am 25. April, geht dann bis 5. Mai und anschliessend an fast jedem Wochenende bis zum 14. Juli. Übernachtungsbesucher, Pendler, Studenten oder Handwerker müssen nicht zahlen, überhaupt alle Bewohnerinnen und Bewohner der Region Veneto. 50 Prozent der Besucher, wird geschätzt, sind ausgenommen. Bringt der Aufwand dann überhaupt etwas?

Es sei doch nur ein Experiment, beschwichtigt Venedigs Bürgermeister Luigi Brugnaro. In der zweiten Jahreshälfte werde Bilanz gezogen. Kann sein, dass das Ganze wieder zu den Akten gelegt wird. Kann aber auch sein, dass die Gebühr im kommenden Jahr flächendeckend eingeführt wird, und vielleicht sind es dann nicht mehr nur 5 Euro, sondern 10 oder 20.

Der Massentourismus vertreibt die Einheimischen

«Dann sind wir Disneyland», sagt Marta Avallone, die in einem Hotel arbeitet und von dieser Gebühr so wenig hält wie alle anderen Beschäftigten, die man nach dem Zufallsprinzip befragt. Auch Tourismusexperten sind skeptisch, die politische Linke ohnehin, denn die neue Regelung hat die rechte Mehrheit im Stadtrat beschlossen, in einer turbulenten Sitzung.

Venedigs Bürgermeister lässt sich allerdings nicht beirren. Im Gespräch gefällt er sich in der Rolle des hemdsärmeligen Machers. Er entschuldige sich bei den Touristen, sagt Brugnaro mit grosser Geste, aber das müsse halt sein, wenn man Venedig retten wolle, diese vom Massentourismus geschundene Stadt. Und ums Geld, nur um dieses Argument gleich mal abzuräumen, gehe es ganz sicher nicht. Am Anfang werde das Ganze mehr kosten als einbringen.

Der Massentourismus vertreibt die Einheimischen. Im Schaufenster der Morelli-Apotheke nahe der Rialtobrücke zählt eine Digitalanzeige die Bewohner Venedigs: Es sind weniger als 49’000, vor einer Generation waren es doppelt so viele. Eine so grosse Zahl an Einwohnern hat Venedig seit der grossen Pest des Mittelalters nicht mehr verloren, sagt Giorgio Andreotta Calò, ein einheimischer Künstler. «Wenn die Einwohner weggehen, stirbt die Stadt.» Im vergangenen Jahr gab es eine historische Trendwende: Erstmals wurden mehr Touristenbetten als Einheimische gezählt.

Jetzt sollen sie alle erfasst werden, vor allem die Tagesbesucher, aber auch Übernachtungsgäste müssen sich auf der Internetseite registrieren, auf der die Eintrittsgebühren erhoben werden. Fragen bleiben. Was machen Leute, die mit Onlinebuchungen nicht zurechtkommen? Die gar keinen Internetzugang haben, um sich anzumelden, und vielleicht nicht einmal ein Handy, um den QR-Code als Zahlungsbeleg vorlegen zu können? Alles nicht geklärt.

Bussgeld von bis zu 300 Euro

Und dann die Kontrollen: Schliesslich droht die Stadt mit einem Bussgeld von bis zu 300 Euro. Vor ein paar Monaten war noch die Rede von Drehkreuzen am Hauptbahnhof und an den Brücken, die von der Piazzale Roma ins historische Zentrum führen. Das ist vom Tisch. Wird es Polizeikontrollen geben? Niemand weiss Verbindliches – obwohl jahrelang über das Projekt geredet wurde. Bürgermeister Brugnaro sagt lediglich, man müsse einfach mal loslegen. «Was ich hier mache, das hat sich doch bisher kein Politiker getraut.»

Im Jahr 2015 hat der Unternehmer, ein Parteiloser, erstmals das Amt erobert. Wie er so redet und redet, erinnert er an Silvio Berlusconi, der auch immer lieber allmächtiger Unternehmer sein wollte als Politiker. Berlusconi hatte sich angesichts der Opfer, die er fürs Land bringe, mal mit Jesus verglichen.

Auch der grosse Entdecker Marco Polo, dem zum 700. Todestag gerade eine Ausstellung im Dogenpalast gewidmet wird, sei in unbekannte Gefilde vorgestossen und mit vielen Erfahrungen zurückgekommen. Und weil er gross denkt, nennt Brugnaro auch den Namen Mose. Das ist nicht nur der Prophet aus der Bibel, der die Juden durchs geteilte Rote Meer führte. Mose ist auch die Abkürzung für das Milliardenbauwerk draussen vor der Lagune. Daran habe auch keiner geglaubt, und jetzt funktioniere es zur allgemeinen Zufriedenheit.

In der Tat erfüllt das Unterwasserbollwerk M.O.S.E. (Modulo Sperimentale Elettromeccanico) nach jahrzehntelanger Diskussion, nach Fehlplanungen, Korruptionsverfahren und Kostenexplosionen seit 2021 seinen Zweck: die Lagune bei Hochwasser abzuriegeln. 78 Fluttore – 30 Meter hoch, 20 Meter breit – kommen auf Knopfdruck aus dem Wasser und verschliessen den Zugang zur Stadt. M.O.S.E. hilft gegen Hochwasser auf dem Markusplatz. Aber es hilft eben nicht gegen die Touristen, die ihn vor allem im Sommer fluten.

Ob die Eintrittsgebühr tatsächlich etwas bringt, da ist sich der Künstler Calò nicht sicher, jedenfalls nicht ohne weitere Massnahmen, wie er betont. Man müsse Anwohner zurückholen in die Stadt, indem billiger Wohnraum angeboten werde. Venedig sei ja längst unbezahlbar geworden. Calò geht noch weiter. Sein Motto heisst «Aktives Nichtstun», und er meint das sehr ernst.

Mit zwei Freunden hat er das Südende der Insel Sant’ Andrea am Eingang der Lagune gegenüber dem Lido gepachtet. 20 Jahre läuft die Pacht, für wenig Geld, es ist auch nur ein kleines Stück verwunschenes Land. Wiese, Sträucher, Bäume, ein bisschen Urwald mit einer kleinen Kirche kurz vor der Spitze: «Das ist ein, wenn nicht der letzte, vom Tourismus unberührter Fleck», sagt Calò.

Was die Freunde hier denn tun wollen, sei er immer wieder gefragt worden. Seine Antwort: «Nichts. Wir wollen hier nichts tun.» Nichtstun bedeutet für ihn aber nicht Nichthandeln, im Gegenteil: «Es kostet grosse Mühe, der Versuchung zu widerstehen, auch diesen Ort in etwas anderes zu verwandeln. Aber wir wollen dafür sorgen, dass dieser Ort so bleibt, wie er ist.»

Damit sie ihre Vision eines besseren Venedig gut erzählen können, würden die drei Freunde gern auch das benachbarte, deutlich grössere Territorium pachten. Darauf steht eine Festung aus dem 16. Jahrhundert, noch gut erhalten. Natürlich könnte man diese Festung wunderbar in ein Luxushotel verwandeln – aber dem Künstler schwebt das Gegenteil vor.

Sie und die gesamte Insel genauso zu belassen, wie sie sind, sei ein wichtiges Symbol dafür, wie sich der Blick drehen müsse, sagt Calò. Damals habe die Festung Venedig beschützt. Heute müsse Venedig Orte wie diese Festung beschützen. Orte, die dem Tourismus trotzen.

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