GöTTERKULT IN DEN GEHEIMEN TEMPELN DER MINOER: OPFERTEN UNSERE VORFAHREN AUF KRETA MENSCHEN?

«Sie wollten dem Himmel ganz nah sein», sagt Georgios Papadopoulos. Der kretische Reiseführer steigt über ein paar Felsbrocken und blickt hinüber zu einer Bergkette in der Ferne.

Die Ruinen des minoischen Heiligtums Anemospilia thronen abgeschieden und erhaben an einem Gebirgshang über Heraklion. Von den freigelegten Mauern am Juchtas blickt man weit über Ölbaumhaine und Weinberge auf die Inselhauptstadt Kretas und das Ägäische Meer. Der Lärm der hektischen Grossstadt, nur zwanzig Autominuten entfernt, wird hier oben am Berg Juchtas schon vom Flügelschlag einer Heuschrecke übertönt. Zikaden surren, Vögel zwitschern. Schmetterlinge taumeln über Wildkräuter, die der Wind über den alten Tempel wiegt. Anemospilia, griechisch für «Windhöhle», ist von der Gegenwart Kretas scheinbar Jahrtausende entrückt.

Heilige Stätten auf Kretas Bergeshöhen

Wer immer die Menschen waren, die hier oben vor mehr als 3700 Jahren ihren Göttern huldigten, sie hatten den Ort für ihr Heiligtum mit Sinn für Theatralik gewählt. Vom Juchtas blickten die Minoer – benannt nach dem legendären König Minos – auf das Dikti-Gebirge im Osten, das mehr als 2000 Meter aufragt. Der Psiloritis im Westen ist mit fast 2500 Metern der höchste Gipfel Kretas. Noch mächtiger und einsamer sind nur die Lefka Ori, die Weissen Berge, weiter westlich.

In der griechischen Mythologie liegt der Geburtsort des Zeus in der kretischen Unterwelt. Der Tradition nach gelten die Höhle von Psychro am Fuss des Dikti und die Idäische Grotte nahe dem Psiloritis als die Orte, wo er zur Welt gekommen ist und seine Kindheit verbracht hat. Der Juchtas liegt ziemlich exakt zwischen den beiden Orten.

Kontroverse Debatte um ein Skelett

Vor Urzeiten glaubten die Kreter, dass auf dem 811 Meter hohen Juchtas Zeus begraben liege. Der Höhenzug, der aus einiger Entfernung wie das Profil eines schlafenden Riesen aussieht, soll ein Zeichen dafür gewesen sein. Die Griechen, überzeugt von der Unsterblichkeit des Göttervaters, warfen den Kretern Frevel vor. Überhaupt waren deren Götter sehr wahrscheinlich gänzlich anderer Natur als diejenigen vom Olymp, die Homer erst viel später unsterblich machte.

«Waren es Gottheiten des Himmels und der Unterwelt, die die Minoer anriefen?», fragt Georgios Papadopoulos. «Wir wissen es nicht.» Der 51-Jährige war als kleiner Junge Anfang der achtziger Jahre, kurz nach Freilegung der Tempelruinen von Anemospilia, zum ersten Mal hier oben. «Es gibt ein Foto davon. Meine Mutter, die auch Reiseführerin war, hat mich damals mitgenommen.»

Die Ausgrabungsstätte sorgte damals für leidenschaftlich geführte Diskussionen, die weit über Archäologenkreise hinaus hallten. «Hier hat man das Skelett eines jungen Mannes gefunden, der geopfert wurde», sagt Papadopoulos, «es war das erste Beispiel für Menschenopfer unter den Minoern.» Der Guide betritt einen von hüfthohen Mauerresten umgebenen Seitenraum neben dem Tempelinneren, wo man die tönernen Füsse einer einst wohl überlebensgrossen Götterstatue entdeckte. «Neben dem Skelett wurden die sterblichen Überreste eines Priesters gefunden, jemand von Bedeutung in jedem Fall, denn er trug einen eisernen Ring – der in der Bronzezeit eine besondere gesellschaftliche Stellung bezeugte.»

Neue Einblicke in die Rituale der Minoer

Das Bergheiligtum Anemospilia, das 1979 vom Archäologenpaar Efi und Iannis Sakellarakis ausgegraben wurde, entfachte eine wissenschaftliche Debatte, weil die Entdecker die Skelette von drei Männern und einer Frau als Szene eines Menschenopfers interpretierten. Die Beteiligten, mutmasslich ein Priester und eine Tempeldienerin, wurden nach der Opferung eines Jünglings möglicherweise von einem Erdbeben überrascht. So lautete jedenfalls die Auslegung des Befunds durch Iannis Sakellarakis. Womöglich wollten sie mit dem kostbaren Blut des Opfers die Götter besänftigen, nachdem die Erde bereits zuvor gebebt hatte. Andere Archäologen werteten den Fund ebenso als ersten Nachweis, dass die Minoer auch Menschen opferten. Die Antwort auf die Frage, ob die Wiege der europäischen Zivilisation tatsächlich so friedsam und erhaben war, wie sie traditionell meist dargestellt wurde, gibt Anlass zum Nachdenken und hat eine Relevanz, die weit über archäologische Fachdiskussionen hinausgeht.

«Es ist ein sehr spannender Befund, aber die Annahme des Menschenopfers von Anemospilia ist extrem kontrovers», sagt Diamantis Panagiotopoulos. Der Archäologieprofessor ist Experte für die Kultur der Minoer, war Sakellarakis’ enger Mitarbeiter und lehrt an der Universität Heidelberg in Deutschland. «Bei der Beweislage hat Sakellarakis jedoch unrecht», sagt er. Der Fundort des Jünglings sei nicht, wie von Sakellarakis angenommen, ein Altar, und die angenommene Tatwaffe sei kein Messer, sondern nach jetzigem Stand der Forschung eine Speerspitze, die für eine Opferung kaum infrage komme. Der Befund lasse noch immer viele Fragen offen.

Dass die Minoer Menschen opferten, wird indes aber in letzter Zeit erneut diskutiert. «Seit einigen Jahren haben wir ein sehr interessantes weiteres Indiz», sagt Panagiotopoulos. «Man hat den Schädel einer jungen Frau neben Tierknochen im Palastzentrum von Chania gefunden.» Die Ausgräberin Maria Andreadaki-Vlazaki spreche von einem Menschenopfer im 13. Jahrhundert vor Christus. «Die Mehrheit der Forscher hält es mittlerweile für möglich oder sogar bewiesen, dass es Menschenopfer im minoischen Kreta gab.»

Vieles aber bleibt auch für die Wissenschafter im Dunkeln. Wem opferten die Minoer? Was trieb sie auf die Berggipfel und in die Höhlen Kretas?

«Wir kennen keine einzige Gottheit mit Namen», sagt Panagiotopoulos. «Alles ist Interpretation. Wir haben nur die Bilder.» Weil die kretischen Hieroglyphen und die sogenannte Linearschrift A bis heute nicht entschlüsselt sind, gibt es keine Deutungsmöglichkeiten der Kultur aus schriftlichen Quellen. Dass die Minoer eine äusserst hochentwickelte Zivilisation mit einem bemerkenswerten Sinn für Ästhetik waren, zeigen nicht nur die berühmten Wandmalereien, die man im Palast von Knossos rekonstruiert hat, und grazile Statuetten, wie etwa die heute im Museum von Heraklion ausgestellte Schlangengöttin. «Die Minoer zeichnet eine unglaubliche Feinheit im Kunsthandwerk und in der Architektur aus», sagt Panagiotopoulos, «auch als moderner Betrachter kann man die Ikonografie nur bewundern.»

Umstrittener Wiederaufbau des antiken Palastes von Knossos

Vor dem Nordeingang des Palastes von Knossos herrscht an diesem Nachmittag dichtes Gedränge, Gemurmel in allen erdenklichen Sprachen. Touristen aus aller Welt zücken ihre Mobiltelefone und Kameras, um die bekannten roten Säulen des Palastes zu fotografieren. Bisweilen besuchen im Sommer mehr als 5000 Menschen täglich die Ruinen.

Was viele Knossos-Besucher nicht wissen: Bei der weltberühmten Säulenreihe handelt es sich nicht um einen jahrtausendealten Bau, sondern um die kühne Rekonstruktion des britischen Museumsdirektors und Zeitungsredaktors Arthur Evans zu Beginn des letzten Jahrhunderts. Statt kretischem Kalkstein, Alabaster und Zypressenholz nutzte Evans Beton. Nicht nur der Massenansturm und der aus heutiger Sicht mindestens fragwürdige Wiederaufbau aus Zement nehmen Knossos viel von seinem zweifellos besonderen Zauber. Das mythische Labyrinth des Minotaurus ist heute zumindest in der Hochsaison eine Touristenschwemme.

Verborgene Heiligtümer in Höhlen und auf Gipfeln

Wer die wahre Magie der Minoer erleben will, macht sich auf zu den versteckten Höhlen und Berggipfeln, wo wohl bereits um 2000 vor Christus ihre geheimnisvollsten Kulte stattfanden. Mindestens sechsundzwanzig Gipfelheiligtümer, vor allem im Zentrum und Osten Kretas, und mehr als ein Dutzend Höhlen, in denen bereits vor Jahrtausenden rituelle Handlungen stattfanden, haben Archäologen nachgewiesen. Die wenigsten davon weisen jedoch deutlich sichtbare Mauerreste oder ähnliche Spuren auf. Viele lohnen indes allein schon wegen ihrer spektakulären Lage einen Besuch.

Zu der Höhle Agia Paraskevi bei Skotino, etwa eine halbe Autostunde westlich von Heraklion, führt ein schmales Strässchen vorbei an Orangen- und Olivenbäumen. Ein Pfad durch einen lichten Wald unterhalb einer weiss getünchten Kapelle endet in einen gewaltigen Schlund. Noch blinzelt das Sonnenlicht durch das Blattwerk der Färberbäume, doch sobald man in die Tiefe vordringt, hat einen die Dunkelheit bald ganz verschluckt.

Die mächtige Höhle betritt man wie eine Kathedrale in der Unterwelt. Das Vogelgezwitscher ist den unheimlich widerhallenden Flügelschlägen und dem Gurren der Felsentauben gewichen, die an den senkrechten Höhlenwänden Nischen für ihre Nester suchen. Kein Mensch ist an diesem Nachmittag in das Erdloch gestiegen, das einmal eines der wichtigsten Heiligtümer der Minoer gewesen sein muss.

Im Licht der Stirnlampe ragen verwitterte Stalagmiten auf wie Tiergestalten. Von den Höhlenwänden hängen gewaltige Stalaktiten. In einer unterirdischen Kammer soll sich einst ein Altar befunden haben. Forscher fanden hier rätselhafte Votivgaben aus Bronze und Keramik, die wohl bereits in der Frühzeit von der minoischen Zivilisation den Göttern geopfert wurden. Anders als in der Höhle von Psychro und in der Idäischen Grotte, die auch bei Touristen bekannt sind, hat man den Bauch der Erde und den kühlen Schauer, der sich mit jedem weiteren Schritt in die Finsternis einstellt, hier ganz für sich allein.

Aus dem Tempel der Finsternis hinauf zu geweihten Gipfeln: Wo das Levantinische Meer in Kretas fernem Osten an kargen Berghängen zerrt, führt von der minoischen Ausgrabungsstätte Roussolakkos ein schmaler Pfad durch alte Ölbaumhaine. Der Wind treibt Brisen von Rosmarin, Thymian und Wildsalbei über den Berghang, der sich der alten minoischen Stadt zuneigt.

Vermutlich führte der steile Weg bereits vor 4000 Jahren hinauf zum Gipfelheiligtum von Petsofas, als zu seinen Füssen eine Handelsstadt entstand, deren Schiffe bis Kleinasien und Ägypten segelten. Sehr wahrscheinlich konnten die Bewohner bei Nacht das rituelle Feuer auf dem Berg flackern sehen, ganz wie die Bewohner von Knossos das Licht auf dem Juchtas. Oben auf dem Gipfelplateau fanden Archäologen rätselhafte Votivgaben, Terrakotta-Statuetten, männliche und weibliche Figuren in Tier- und Menschengestalt. Erhofften sich die Menschen, dem Himmel so nah, Heilung durch ihre Götter? Hatten die Opfernden dabei einen Zeus in Jünglingsgestalt vor Augen, wie ihn der Kouros von Palaikastro zeigt?

Die Magie der Minoer auf Petsofas

In den Trümmern von Roussolakkos gruben Forscher die Statue eines der bemerkenswertesten Kunstwerke seiner Zeit aus: einen schlanken Knaben aus mit Gold aufgelegtem Elfenbein aus Flusspferdezähnen, Holz und Ägyptischblau, dem Osiris aus den Pharaonengräbern am Nil nicht unähnlich. Die Augen des Kouros sind zwei Bergkristalle.

Ist man oben auf dem Gipfel von Petsofas angekommen, streift der Blick vom Abhang weit über die Ruinen von Roussolakkos hinweg auf das atemraubende Tiefblau der Buchten, die vorgelagerten Inselchen und die Enden des Reichs der Minoer. Einsam steht der Wanderer vor den Felsbrocken, die als letzte Mauerreihe von der jahrtausendealten Kultstätte übrig geblieben sind. Knossos ist weit. Statt mit Zement muss der Betrachter hier die spärlichen Überreste des Gipfelheiligtums allein mit seiner Phantasie zu einer urtümlichen Szenerie zusammensetzen. Und plötzlich flackert über dem Abgrund ein Feuer. Menschen singen. Priester tanzen. Statuen starren sie mit Augen aus Edelsteinen an. Die Götter erheben sich. Für einen Augenblick zieht einen der alte Kult ganz in seinen Bann.

Diese Reportage wurde möglich durch die Unterstützung von Domes Resorts, FTI und Discover Greece.

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