DAS GESCHRUMPFTE PARADIES

Wild, gefährlich, frei – unsere Autorin entdeckt, dass Erinnerungen trügen können. Ein Ort ihrer Kindheit offenbart die Perspektiven des Erwachsenwerdens.

An einem Ort meiner Kindheit gab es einen Bach – den Höllibach. Ein Gewässer, das stets über riesige Steine plätscherte, und an dessen Ufern drei Meter hohe Hänge voller Wurzeln und Höhlen steil in die Höhe schossen. Meine erste bewusste Erinnerung an diesen Ort reicht bis in meine Kindergartenzeit zurück, als mich meine Mutter losschickte, die im Garten gesammelten Weinbergschnecken im Grün entlang des Baches auszusetzen. Mein kleines Herz raste, als ich die Schnecken aus dem Eimer liess, in der ängstlichen Vorahnung, dass sie den steilen Weg entlang der überhängenden Böschung kaum überleben würden. Die waren für eine kleine Schnecke einfach viel zu steil!

Alles oder nichts

Es ging immer um alles oder nichts am Höllibach. Mittelmass war nichts für ihn, das pralle Leben war seine Devise. Später teilten sich zwei Banden sein Revier und trieben dort ihr Unheil. Wir, die «Wölfe», und die anderen, die sich «Schlümpfe» nannten. Womit wohl auch klar war, wer die besten Höhlen als Versteck für die Schätze fand. Doch wir «Wölfe» verdeckten sie leider so dicht mit den herunterwachsenden Lianen, dass wir die Kisten mit ihrem funkelnden Inhalt selbst nicht mehr finden konnten.

Der Höllibach war das Herzstück meiner Kindheit: wild, rauh, gefährlich, frei. Und so beeindruckend, dass ich 30 Jahre später unbedingt meine kleinen Kinder an diesen Ort führen wollte. Als wir an einem Sonntag meine Eltern besuchten, rief ich aufgeregt: «Kommt mit!» und zog meine Stadtkinder in Richtung abenteuerliche Wildnis. Doch schon beim Näherkommen bemerkte ich, dass etwas nicht stimmte. Das Bachbett war flach, die Ufer höchstens einen Meter hoch, das Wasser nur noch ein Rinnsal. Und anstelle der einst riesigen Höhlen fand ich nur noch winzige Löcher.

Die Vorstellungskraft eines Kindes

«Verrückt!», seufzte ich beim Abendessen mit meiner Mutter. «Das ganze Bachbett wurde umgegraben, es hat nichts mehr mit seiner früheren Grösse zu tun!» Meine Mutter schaute mich verblüfft an und lachte: «An dem Bach wurde nie etwas verändert. Er ist immer noch genauso wie damals, als du klein warst!» «Das kann nicht sein!», rief ich empört. «Es ist wirklich so. Nicht der Bach ist klein, sondern du bist gross geworden!», entgegnete meine Mutter.

Gerade wollte ich mich meiner Enttäuschung hingeben, als mir bewusst wurde, dass meine verfälschte Erinnerung zwar meiner einstigen Winzigkeit entsprang, aber auch meiner damaligen Beeindruckbarkeit. Einer zauberhaften, kindlichen Gabe, die mit dem Erwachsenwerden schneller verschwand als die Lianen-bedeckten Schätze der «Wölfe».

Auf dem Heimweg sass ich mit meinen Kindern im Tram, als ein kleiner Junge aufgeregt herumwirbelte und rief: «Gleich habe ich den Elefanten!» Die Mutter war sichtlich gestresst, wohl besorgt darüber, die Ruhe der Mitfahrenden zu bewahren. Doch sein Ausritt durch die Weiten Afrikas bekam kaum jemand mit – fast alle hatten ihre Ohren mit Kopfhörern zugestöpselt und ihre Augen aufs Smartphone gerichtet, während der Junge die Stange umklammerte und begeistert etwas von Stosszähnen schrie. Offensichtlich lebte er gerade in seinem ganz persönlichen Höllibach. Jeder Millimeter ein Meter. Jeder Gegenstand ein Tier. Alle Tiere zu einer Geschichte verwoben, bei der sich selbst «Das Dschungelbuch» warm anziehen muss.

Wie viel Zeit wird wohl vergehen, bis auch er stumm im Tram sitzt? Bis eine Stange einfach eine Stange ist, während er stoisch auf seinem Smartphone irgendwelche geposteten Bilder eines Elefanten betrachtet? Jedes Kind braucht seinen Höllibach. Und wenn wir Erwachsenen etwas vom Wissen bewahrten, dass alles ganz anders sein kann, als es scheint, wäre unsere Welt wohl reicher und schöner. Schlussendlich ist alles eine Frage des Blickwinkels. Und in dieser Kunstform sind Kinder unsere grössten Lehrmeister.

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2024-04-11T04:10:41Z dg43tfdfdgfd