BIENNALE VENEDIG: DIE BEGEGNUNG MIT DEM UNBEKANNTEN – DAS IST DAS ABENTEUER DER KUNST

Die Giardini in Venedig sind so etwas wie der Garten Eden für die Kunst. Wäre da bloss nicht das Prinzip der Länder-Leistungsschau. Welches Land hat welche Kunstschaffenden ins Rennen geschickt? Welcher Pavillon ist der beste? Der Sündenfall in diesem Paradies besteht darin, dass die Nationen dieser Welt alle zwei Jahre die Kunstbiennale dazu nutzen, um ihre künstlerischen Talente zu vermarkten.

Das Konzept gilt denn auch vielen als überholt. Das zeigt sich darin, dass sich immer mehr Länderpavillons um Nationales futieren. So kündigt ein riesiger Kopf eines chinesischen Drachens vor dem nordischen Pavillon an – den sich Finnland, Schweden und Norwegen teilen –, dass diesmal alles etwas anders ist. Lap-See Lam hat den Ausstellungsraum in einen Bambushain verwandelt. Darin wird eine chinesische Oper gegeben. Die Künstlerin ist zwar in Stockholm geboren, hat aber Hongkonger Wurzeln.

Auch im Schweizer Pavillon folgt man seit längerem nicht mehr der Idee der nationalen Talentschau. Nicht um Selbstdarstellung gehe es hier, betont der Direktor von Pro Helvetia an der Eröffnung. «Wir schauen nie auf den Pass bei der Wahl eines Kandidaten», sagt Philippe Bischof. Der Künstler, der diesmal den Pavillon bespielt, ist zwar in Genf geboren, aber in Brasilien aufgewachsen, wo er heute lebt und arbeitet. Guerreiro do Divino Amor lautet sein Künstlername.

Guerreiro blickt auf die Schweiz von aussen. Und hält den Schweizern ein Stück weit den Spiegel vor. Was macht eigentlich einen Schweizer aus, fragt man sich, während man unter dem grossen Gewölbe liegt, an dessen Decke die Videoinstallation «Das Wunder Helvetia» flimmert. Darin wird die Schweiz als eine ziemlich bizarre Fantasy-Welt dargestellt. Guerreiro überzeichnet vermeintlich typisch Schweizerisches und spielt mit Klischees. Dies tut er mit Humor. Und bringt so manchen Besucher zum Schmunzeln.

Man solle ruhig etwas befremdet sein von der eigenen Identität, meint der Künstler. Und so kommt man an der diesjährigen Biennale nicht umhin, neben der Kunst auch über nationale Identitäten nachzudenken. Beim Spaziergang von einem Länderpavillon zum anderen realisiert man jedenfalls schnell, dass man hier als Schweizer vor allem auch ein Fremder ist. Und man ist in bester Gesellschaft. Als Besucher der Biennale bewegt man sich unter lauter Fremden. Einen Heimatersatz bietet allenfalls die internationale Kunst-Community.

Der verfemte Teil

Das alles passt recht gut zum Motto der 60. Ausgabe. «Stranieri Ovunque – Foreigners Everywhere». Überall Fremde, so lautet der Titel der zentralen Ausstellung, die im Hauptpavillon der Giardini und in den Ausstellungshallen des Arsenale stattfindet. Ausgedacht hat ihn sich der diesjährige Biennale-Leiter Adriano Pedrosa.

Zu seiner riesigen Schau hat der in Rio de Janeiro geborene Ausstellungs­macher vor allem Kunstschaffende aus allen Kontinenten eingeladen, die als Aus­länder, Immi­granten, Aus­gewanderte, Exilierte und Flüchtlinge gelten. Das wirkt zwar etwas an den Zeitgeist anbiedernd. Was aber will man sonst an gerade besonders populären Themen bewirtschaften, nachdem die letzte Kunstbiennale bereits im Zeichen der Frauen gestanden ist. Als Fremde versteht der Kurator im Übrigen auch homosexuelle und queere Künstler – überhaupt jede Form von Aussenseitertum.

Damit erweist Pedrosa der Kunst – beabsichtigt oder nicht – einen guten Dienst. Die Kunst als Fremdkörper, als verfemter Teil der Gesellschaft: Das war einmal die Idee der Moderne. Kunst stand für die Überschreitung des Subjekts, für die Entgrenzung der Identität, für Erlösung von der Entfremdung im arbeitsamen Alltag. Das machte sie suspekt. Rasch begriffen hatten das die Nazis. Und in der Folge viele Kunstschaffende als «entartet» diffamiert und verfolgt.

Der Künstler der Gegenwart aber ist schon lange kein Bürgerschreck mehr. Schlagzeilen generiert Kunst vielleicht noch als Provokation, aber auch immer seltener. Kunst hat ihr Geheimnis weitgehend eingebüsst und steht längst nicht mehr für eine fremde Welt. Vielmehr ist sie Teil von Freizeit und Lifestyle geworden. Das wird in Venedig, wo Dinners und Eröffnungspartys zum festen Bestandteil des biennalen Kunstrummels gehören, besonders augenfällig. Kunst ist Bestandteil einer riesigen Kulturindustrie geworden und zum Konsumgut eines nimmersatten Kunstmarkts.

So ist man geradezu dankbar, für einmal auf ausschliesslich «fremde» Kunst zu treffen – auf unbekannte Kunst eben, die man nicht schon überall oder vielleicht überhaupt noch nie gesehen hat. Die Begegnung mit dem Fremden: Das ist doch das eigentliche Abenteuer der Kunst. Man taucht in der Hauptausstellung in lauter fremde Bildwelten ein.

Das beginnt im zentralen Pavillon mit einer eindrücklichen Installation aus Fotografie und Video. Sie stammt von der ägyptischen Künstlerin Nil Yalter, die jetzt für ihr Lebenswerk mit dem Goldenen Löwen der Kunstbiennale ausgezeichnet wurde. Unter dem Titel «Exile is a Hard Job» blicken uns Hunderte von Migranten entgegen. Deren Gesichter sprechen Bände vom harten Los in der Fremde.

Ein anderer Raum ist italienischen Kunstschaffenden des 20. Jahrhunderts gewidmet, die in Europa, Amerika, Asien oder Afrika in der Diaspora lebten. Cesare Ferro Milone gehört zu ihnen. Er lebte in den zwanziger Jahren in Bangkok und schilderte in seinen Gemälden den Alltag des damals noch Siam genannten Thailand. 1925 ist sein Porträt einer gefeierten Tänzerin des königlichen Hofs entstanden. In kostbare Gewänder gehüllt, schaut sie uns mit stolzem, aber auch etwas fragendem Blick an: ein Antlitz aus einer ziemlich fremden und weit entrückten Welt.

Fremd in der Heimat

Gezeigt werden unter anderem auch Werke von Ureinwohnern aus verschiedenen Kontinenten. Als Vertriebene und Ausgegrenzte wurden sie oft in ihrer eigenen Heimat zu Fremden. Dazu zählen die Künstlerinnen eines Kollektivs von Maori-Frauen in Neuseeland. Sie haben die Decke des Eröffnungsraums im Arsenale mit einer schillernden, minimalistisch-zeitlos wirkenden Installation aus traditionellem Faser-Werk versehen, die an bestes zeitgenössisches Design erinnert.

Auf dieser Schau dürften viele Werke als ernstzunehmende Kunst gerade erst entdeckt werden. Aber auch diese werden vom Markt früher oder später vereinnahmt werden. Was sich bisher an den Rändern der internationalen Kunstszene aufhielt, wird nach dieser Biennale so fremd nicht mehr sein. Doch für eine Horizonterweiterung ist diese Ausgabe allemal gut.

So fällt ausserhalb der Biennale in der beim Eingang des Arsenale gelegenen Osteria alla Tana ein Bild auf, das wie ein Fremdkörper wirkt unter den hier in Goldrahmen an den Wänden hängenden venezianischen Kitsch-Veduten. Es ist naive Volkskunst, wie sie an dieser Biennale überall zu sehen ist. Die Malerei zeigt Frauen in bunten Kleidern bei der Feldarbeit. Das Bild stammt wie auch das gesamte Personal des Restaurants aus Bangladesh. Auch hier ist man ein Fremder unter Fremden.

Die Kunstbiennale in Venedig findet bis am 24. November statt.

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