WAS HAT STONEHENGE MIT DEM MOND ZU TUN? EIN SELTENES PHäNOMEN KöNNTE DAS RäTSEL LöSEN

Stonehenge ist wohl der berühmteste Steinkreis der Welt. Das megalithische Bauwerk in der Nähe von Amesbury in der englischen Grafschaft Wiltshire ist ein rätselhaftes Monument, dessen Ursprung und Zweck sich in den Nebeln einer fernen Vergangenheit verlieren. Seine tonnenschweren Trag- und Decksteine werfen unweigerlich die Frage auf, wie es die Menschen in der Jungsteinzeit vor etwa 5000 Jahren wohl geschafft haben, eine solch enorme Struktur zu errichten. Und die Frage, welche Funktion Stonehenge wohl hatte, fasziniert nicht nur Esoteriker, sondern auch Wissenschaftler.

Sicher ist, dass Stonehenge mit dem Stand der Sonne zu tun hat. Das stellte schon der britische Astronom Joseph Norman Lockyer zu Beginn des 20. Jahrhunderts fest. Er bemerkte, dass der sogenannte Heel Stone der Stein-Formation exakt auf den Sonnenaufgang zur Sommersonnenwende am 21. Juni ausgerichtet ist. Es gilt daher in der Wissenschaft als sehr wahrscheinlich, dass Stonehenge eine Art von frühzeitlichem Kalender ist. Wie dieser gigantische Kalender aber genau funktioniert hat, ist bisher nicht geklärt.

Die grosse Mondwende

Ebenfalls nicht geklärt ist die Frage, ob Stonehenge auch eine physikalische Verbindung zur Bahn des Mondes hat. Licht ins diesbezügliche Dunkel könnte bald ein astronomisches Ereignis bringen, zu dem es nur selten kommt: Die sogenannte grosse Mondwende (siehe Infobox unten) findet alle 18,6 Jahre statt – und das nächste Mal ist das im Januar 2025. Ein Team von Archäoastronomen und Archäologen will diese Gelegenheit nutzen, um die Stonehenge-Struktur auf mögliche Bezüge zur grossen Mondwende zu untersuchen.

Grosse Mondwende

Dieser wenig bekannte Begriff (engl. «major lunar standstill» genannt) bezeichnet wiederkehrende Extrempositionen des Mondes. Der Aufgangspunkt des Mondes am östlichen Horizont verschiebt sich von Tag zu Tag, und zwar bedeutend schneller als jener der Sonne. Während die Sonne innerhalb eines Jahres von einem Extrempunkt zum anderen und zurück wandert – von der Sommersonnenwende (am nördlichsten Horizontpunkt) zur Wintersonnenwende (am südlichsten Horizontpunkt) und wieder zurück –, durchläuft der Mond diese Wanderung zwischen einem südlichsten und einem nördlichsten Punkt und zurück innerhalb eines Monats.

Die Sonne geht zudem immer an denselben Extrempositionen auf, während jene des Mondes sich im Laufe der Jahre verschieben. Wenn sie den weitesten Abstand zueinander erreichen, spricht man von einer grossen Mondwende. Die kleine Mondwende hingegen markiert die Zeit, in der die Extrempositionen des Mondes am nächsten zueinander liegen.

Die Ursache für die Veränderung des Mondaufgangspunktes liegt in der Neigung der Mondbahn gegenüber der Erdbahn (Ekliptik) um etwa 5 Grad. Die Kipprichtung bleibt aber nicht konstant – die gekippte Mondbahn «torkelt» vielmehr wie ein Kreisel mit einer Umlaufzeit von 18,6 Jahren. Dieser Zeitraum markiert den Abstand zwischen zwei grossen Mondwenden.

Das Forschungsprojekt soll bereits im Frühjahr 2024 beginnen und bis Mitte 2025 durchgeführt werden, denn Mondaufgang und -untergang nähern sich jetzt schon allmählich ihren Extrempositionen, wie sie bei der grossen Mondwende auftreten. Die Beobachtung des Phänomens in Stonehenge selbst sei entscheidend, sagte die Archäologin Amanda Chadburn von der Universität Oxford dem «Guardian». Weiter betonte sie: «Es ist nicht einfach, die Extreme des Mondes zu verfolgen, denn dafür sind bestimmte Zeit- und Wetterbedingungen erforderlich. Wir wollen etwas davon verstehen, wie es war, diese extremen Mondauf- und -untergänge zu erleben und ihre visuellen Auswirkungen auf die Steine zu beobachten, zum Beispiel Licht- und Schattenmuster.»

Die Rolle der «Stations-Steine»

Dass Stonehenge etwas mit diesem astronomischen Ereignis zu tun haben könnte, machen einige Forscher an den zwei heute noch stehenden sogenannten Stations-Steinen des Megalith-Bauwerks fest, von denen es ursprünglich vier gab, die ein Viereck bildeten. Wissenschaftler haben verschiedene astronomische Ausrichtungen vorgeschlagen, die mit diesen Steinen zu tun haben sollen, darunter auch die extremen Mondpositionen während der Mondwende.

Gestützt wird diese Annahme durch die Tatsache, dass die Menschen in der frühen Phase von Stonehenge – zwischen etwa 3000 und 2500 v. Chr. – die verbrannten Überreste ihrer Toten im Graben und in der Böschung des Monuments bestatteten. Viele dieser Bestattungen konzentrierten sich auf den Südosten der Anlage, der ungefähr mit dem südlichsten Stand des Mondes übereinstimmt.

Allerdings werden solche archäoastronomischen Theorien von etablierten Archäologen eher mit Skepsis betrachtet, da nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, dass die Stations-Steine zeitgleich mit anderen Steinen oder Pfosten in Stonehenge errichtet wurden. Es ist zudem möglich, dass sie Teil einer achteckigen Struktur bildeten, die nach einem geometrischen Plan aufgestellt wurde und die nichts mit astronomischen Konstellationen zu tun hatte.

Alte Kulturen dürften die Mondwende gekannt haben

Gleichwohl nehmen viele Fachleute an, dass die jungsteinzeitlichen und bronzezeitlichen Gemeinschaften, die Stonehenge erbauten und nutzten, die grosse Mondwende kannten. In den Kultstätten verschiedener präkolumbianischer indigener Kulturen Nordamerikas – etwa in Chaco Canyon in New Mexico, Chimney Rock in Colorado und Hopewell Sites in Ohio – sollen sich ebenfalls solche Ausrichtungen auf den Mondaufgang oder Monduntergang an den Tagen der Mondwende finden.

Auch Clive Ruggles, emeritierter Professor für Archäoastronomie an der Universität Leicester, geht davon aus, dass die Menschen damals die grosse Mondwende bereits kannten. Im «Guardian» stellte er fest: «Die Menschen sind sich des Phasenzyklus des Mondes schon seit Zehntausenden von Jahren bewusst. Ich denke, dass dies in Stonehenge der Fall gewesen sein könnte, und das ist es, was wir erforschen wollen: Um die Zeit einer grossen Mondwende herum bemerkten die Menschen, dass der Mond ungewöhnlich weit im Norden oder Süden auf- oder unterging, erkannten, dass dies etwas Besonderes war, und begannen, die betreffenden Richtungen zu verehren und schliesslich zu monumentalisieren.» (dhr)

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