GEHEN SIE KEINESFALLS NACH VILNIUS, SCHREIT DIE WERBUNG. WIESO SIE ES TROTZDEM TUN SOLLTEN

Waren Sie schon einmal in Vilnius? Oder fragen Sie sich gerade, wo diese Stadt überhaupt liegt? Irgendwo auf dem Balkan? Fast. Immerhin sind Sie auf Osteuropa gekommen. Vilnius ist die Hauptstadt von Litauen, einem der drei baltischen Staaten. Irgendwann war das Gebiet Teil der Sowjetunion. Letztes Jahr fand dort der Nato-Gipfel statt. Wenn Sie das nicht mehr wussten, sind Sie bestimmt nicht allein: Vilnius dürften in Westeuropa die wenigsten kennen. Und genau das ist für die Litauer ein Problem.

Über Schlägertypen, Wildpinkler und Essiggurken

Um Vilnius bekannter zu machen, hat die Stadt einen neuen Werbespot lanciert. Ganz nach dem Motto: «Auch schlechte Werbung ist besser als keine Werbung.» Damit dürften die Verantwortlichen sogar recht haben, schliesslich lesen Sie jetzt diesen Artikel.

In dem kurzen Werbeclip sitzt ein Mann auf einer Parkbank in London und sieht in einer Zeitung eine Annonce: «Come to Vilnius». Vor seinem geistigen Auge spielt sich ein Film ab: graue Plattenbauten, verlotterte Holzhütten und ein ungepflegter Mann, der eine Essiggurke isst. «Vilnius, die Perle Osteuropas», sagt eine Stimme aus dem Off, während die Kamera auf einen anderen Mann schwenkt, der an eine Fassade uriniert.

Die Erzählstimme fährt fort: «Wenn Reisende nach Vilnius kommen, werden sie sofort verzaubert vom Charme seiner frohen und gastfreundlichen Bewohner.» Man sieht drei Männer, die auf einen vierten eintreten, der hinter einer Mülltonne liegt. Schlaglöcher, verrostete Briefkästen, ein Plumpsklo – und noch mehr Essiggurken.

Wenn der Anfang der Werbung alle möglichen (und unmöglichen) Sowjetklischees bedient, dann ist das Ende umso nichtssagender. Der Zuschauer bekommt das vorgeblich wahre Vilnius gezeigt: eine gotische Kirche, eine pittoreske Altstadt, ein paar Wolkenkratzer und leckeres Street-Food.

Dafür soll man also bis ans Ende Europas fahren?

Der Kampf gegen den Sowjetschatten

Der Spot zeigt vor allem eins: Litauen hadert noch heute mit seiner Vergangenheit. Im Land selbst hat die Werbung Entrüstung ausgelöst. Die sowjetische Besetzung, die 1990 mit der litauischen Unabhängigkeitserklärung endete, liegt noch nicht weit genug zurück, als dass man sich über diese Zeit lustig machen dürfte. Fast 400 000 Menschen liess Josef Stalin bis 1953 aus Litauen, Lettland und Estland in die sibirischen Gulags deportieren. Viele kamen nie mehr zurück.

Die Geschichte der Sowjetunion ist im Baltikum bis heute allgegenwärtig – und doch versuchen die drei Staaten den Sowjetschatten mit allen Mitteln abzuschütteln. In allen drei Ländern wurden nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine Sowjetdenkmäler aus dem Stadtbild verbannt. In Lettland will die Regierung Russinnen und Russen ohne Lettischkenntnisse des Landes verweisen. Und nun versucht sich Vilnius als geschichtslose europäische Kleinstadt zu vermarkten.

Dabei ist es gerade die Vergangenheit, die das Baltikum für Besucher so interessant macht. 33 Jahre nach der Unabhängigkeit kann man hier noch immer deutlich sehen, welche Spuren das gewaltsame Eindringen einer fremden Macht in einem Land hinterlässt.

Da sind baufällige Plattenbauten, die in starkem Kontrast zu den gut erhaltenen Altstädten stehen. Restaurants, die neben Burgern und Wraps auch Soljanka und kalten Borschtsch anbieten. Museen, die dafür sorgen, dass die Geschichte nicht vergessengeht, und russische und weissrussische Oppositionelle, die sich für eine bessere Zukunft in ihrer Heimat einsetzen. Vor allem aber sind da Menschen, die davon erzählen können, wie es ist, in einem Land zu leben, das sich und seine Identität neu finden muss.

All das wäre doch einen Besuch wert, meinen Sie nicht?

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